Stadtgeschichte(n) Folge 29: Zwischen Ungeduld und Erdbeerschnitte
Der Advent ist traditionell die Zeit der Erwartung und Vorfreude. Während in der Gegenwart bereits ab Montag nach dem Totensonntag so manches Haus im blinkenden Lichtermeer zu ertrinken droht, wurden während der Adventszeit vor 80 Jahren nur wenige weihnachtliche Symbole aufgetragen. In jedem Fall gehörte dazu ein Adventskranz oder - leuchter. Keineswegs aber schon Pyramiden oder gar Weihnachtsberge. Das hatte auch ganz pragmatische Gründe. Da in den Häusern durch Heimarbeit und zumeist recht große Familien notorischer Platzmangel herrschte, wurden solch raumfassende Weihnachtsdekorationen erst zu den eigentlichen Weihnachtsfeiertagen vorgenommen.
Und Hand auf`s Herz – Welcher Stollenliebhaber wartet heutzutage mit dem Genuss des weihnachtlichen Backwerks noch tatsächlich bis Weihnachten und widersteht damit den Angeboten von Bäckereien und Marktständen?
Damals wie Heute gehört auch das Backen typischer weihnachtlicher Delikatessen zur Weihnachtsvorfreude im Advent. Dabei haben die verschiedenen Backwerke durchaus nicht nur ihren Ursprung in den Backkünsten und reinen Geschmacksvorlieben unserer Vorfahren, sondern haben kulturhistorische Hintergründe, welche beispielsweise mit bestimmten Kalendertagen und Ereignissen aus der biblischen Geschichte verbunden sind:
Spekulatius-Kekse werden traditionell ab dem 6. Dezember gegessen. Das knusprige Gebäck enthält neben den Gewürzen Kardamom, Zimt und Gewürznelken besonders viel Butter. Demzufolge waren Spekulationskekse lange Zeit den besseren Gesellschaftsschichten vorbehalten. Dass der Spekulationskeks in der Weihnachtszeit ab dem Nikolaustag verspeist wird, liegt im Ursprung seines Namens begründet: „speculator“ bedeutet in der lateinischen Sprache „Bischof“ und gilt als Beiname des Heiligen Nikolaus. Jener hatte zu Lebzeiten als Bischof von Myhra der Legende nach an die Bedürftigen nicht nur seinen Mantel, sondern auch Essen weitergegeben, darunter auch solcherlei Gebäck.
Der Weihnachtsstollen wurde einst erst zum Weihnachtsfest angeschnitten. Selten befand sich Stollen auch auf den Zutaten des Neunerlei, des traditionellen Heiligabend-Essens, zumeist wurde der Stollen am ersten Weihnachtsfeiertag gegessen. Die in manchen Regionen noch erhaltene Bezeichnung „Wickelkind“ verrät die Symbolik: Der Stollen steht für das gewickelte Kind, welches in der Heiligen Nacht geboren wurde. Deshalb ist die Stollenform ursprüngliche eine Lure. Als ältestes schriftliches Vorkommen des Wortes Stollen für ein weihnachtliches Gebäck gilt die Erwähnung in einem Innungsprivileg des Naumburger Bischofs Heinrich I. von Grünberg für die Gründung der Bäckerinnung in der Stadt im Jahr 1329. In der Urkunde werden die Naumburger Bäcker neben mehreren in Geld zu zahlenden Abgaben auch zu einer Sachleistung verpflichtet, die folgendermaßen lautet: „an des heiligen Crist[us] Abende zwey lange weyssene Brothe, die man Stollen nennet“.
Gemessen an den Zutaten war Stollen ein luxuriöses Backwerk, welches sich im Mittelalter längst nicht jeder leisten konnte. Noch vor etwa 100 Jahren wurde der vogtländische Weihnachtsstollen bisweilen ohne exotisches Zitronat und mit möglichst wenig teurer Butter gebacken. Der Fettanteil wurde teilweise durch Talg gestreckt. Zumeist war dies der Rindertalg, jedoch taucht auch „das Fett um die Nieren des Hasen“ in Rezepten auf. Insgesamt war der Anteil an „guten“ Zutaten gemessen an der Menge des Mehl wesentlich geringer als heute.
In Gedenken an den heiligen Stephanus werden am 26. Dezember Pflastersteine verspeist. Brauner Teig und Zuckerglasur, geformt als Viereck oder kreisrund sollen die süßen Backwerke mit weißem Zuckerüberzug an das erste Opfer der Christenverfolgung erinnern, welches in Folge seines Bekenntnisses gesteinigt wurde. Der zweite Feiertag ist im Kirchenjahr dem Erzmärtyrer gewidmet.
Dann aber sind weihnachtliche Backwerke der Gegenwart schon Opfer des Preisverfalls. Sind die drei Weihnachtsfeiertage vorbei, gibt es viele dieser Köstlichkeiten zum halben Preis zu kaufen, obwohl die Weihnachtsgeschichte gerade erst begonnen hat und eigentlich noch Wochen andauert. Lebkuchen waren als Fastennahrung sogar bis zum Osterfest in Gebrauch.
Einzig der Weihnachtsbaum scheint zeitlich noch am rechten Fleck zu stehen. Seine begrenzte Haltbarkeit schützt ihn wohl vor den allzu Ungeduldigen. In den warmen Stuben ist das Mindesthaltbarkeitsdatum bereits am 6. Januar, dem Dreikönigstag überschritten, die Müllabfuhr folgt in der Woche darauf. Nur selten noch sieht man Weihnachtsbäume noch später in heimischen Stuben leuchten. Aber dann fallen sie in jedem Fall auf, denn das überschwängliche Lichtermeer aus der Vorweihnachtszeit ist dann schon wieder verebbt, auf der sonntäglichen Kaffeetafel stehen Erdbeerschnitten anstatt Stollen, obwohl die Zeit des Weihnachtsfestes 40 Tage andauert, also bis Mariä Lichtmess (2.2.2022). XB